Gefragt hat er mich nicht, der Herrgott, ob es mir recht wäre, in einer Stadt wie Gelsenkirchen geboren zu werden. Ich wurde übergangen, ignoriert, bereits im Mutterleibe übervorteilt und somit
vorsätzlich pränatal für den Rest meines Lebens GEbrandmarkt.
Hätte ich ein Wörtchen mitzureden gehabt, so wäre mir eine Ortschaft mit etwas weniger Fremdschämpotenzial deutlich lieber gewesen.
Aber so erblickte ich das Licht der Welt in der Stadt der tausend Zwistigkeiten, in tiefster Ruhrgebietsprovinz und mir blieb nichts anderes übrig, als mich irgendwie mit dieser intellektuell
verrußten Situation zu arrangieren.
Ich brauchte eine ganze Weile, um schmerzlich zu begreifen, warum Leute von anderswo tendenziell mitleidig und mehr oder weniger überheblich grinsend auf die Erwähnung meiner Geburtsstadt
reagierten. Zechenkulis und Schalkeproleten haben eben außerhalb der Stadtgrenzen keine Lobby. Überhaupt war mir diese blau-weiße Ersatzreligion, dieses armselige Substitut für Lebenssinn, das
Menschen zu grölenden Pavianen regrediert, schon immer suspekt.
Ähnliches empfand ich gegenüber der verbalen Gelsenkirchener Gangart: Rau aber herzlich soll sie sein, direkt, schnörkellos und damit uneingeschränkt liebenswert, seit Kurzem auch offiziell
sprachwissenschaftlich als eigenständiger regionaler Dialekt aufgewertet. Ich selbst konnte nie etwas anderes, als diesen lautstarken Malocherduktus als grobschlächtig, unhöflich und unkultiviert
zu empfinden. Ein peinlicher Soziolekt, der schonungslos offenbart, in was für einem verkümmerten Umfeld man gezwungen war aufzuwachsen. Akustisches Brandzeichen des Ruhrpottprekariats.
Fluchtgedanken. Nur raus hier, alles zurücklassen, den geistigen Schmutz, die verkommene Sprache, die biergeschwängerte Hoffnungslosigkeit. Neu beginnen, da wo es lebenswerter scheint. Geistige
Entgiftung betreiben, gelsenkirchener Gedanken auslöschen, vehement verdrängen, wiederholt mit Nachdruck versucht, immer wieder kläglich gescheitert, das Einsickern von ErinnerunGEn zu
verhindern:
Lieblicher Duft von Popcorn und gebrannten Mandeln, Kirmes auf dem Wildenbruchplatz, mit Papa auf der Krake, am Elefantenhaus im Ruhrzoo würzige Luft atmen, stets fasziniert von der alten Prägemaschine und den Erdmännchen, mit Mama an
der Hand im Zentralbad runden
drehen und das vollgepinkelte Kleinkindbecken genießen, den majestätischen Steinlöwen der Apotheke in Bismarck bewundern, dann noch
schnell bei Otto anne Bude im Trinenkamp paar Klümchen holen, in Ückendorf Captain Future gucken und hinterher mit Handpuppen Songs von Dschinghis Khan synchronisieren, Spätsommerplanschen mit der ganzen Bagage im
Revierpark Nienhausen, ab und zu lecker Frühstücken bei Sinn oder fettige Bolognese im Alpha-Grill
verspachteln, erste Kinoerlebnisse in der alten Schauburg an
der Bahnhofstraße... Hömma, wat war dat doch schön!
Der Artikel wurde im November 2016 in der ISSO veröffentlicht (Seite 38).
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© Stefan Lojewski