Eine Replik zu "Gelsenkirchen den Rücken kehren? Warum?"
Ich hege gewisse Sympathien für den rührenden Versuch von einem "früher war alles besser" (wird so pauschal in WL´s Text übrigens nirgends behauptet) zu einem konzilianten "ist heute ja nicht
alles schlecht" zu gelangen. Das ist menschlich nachvollziehbar, vor allem wenn von Menschen geäußert, die gezwungen sind, in GE zu verbleiben, weil sie schlicht keine Wahl haben (ob dies auf den
Autor der Gegenrede zu Lojewski´s Text zutrifft, entzieht sich meiner Kenntnis).
In der Arbeitspsychologie wird u.a. das Phänomen der "resignativen Arbeitszufriedenheit" untersucht, welches mit Anspruchsreduzierung und Passivität des Arbeitnehmers einhergeht. So etwas wie
"resignative Lebenszufriedenheit" scheint es auch zu geben: Man beruhigt sich selbst, ignoriert und blendet aus (sofern möglich), und redet sich ein, dass doch alles gar nicht so schlimm sei.
Oder mit mehr Lokalkolorit ausgedrückt: "Woanners iss au Schaiße!"
Darüber hinaus finde ich es höchst vergnüglich, den veganen Rohköstler, Gesundheitsapostel, Tierschützer und ausgemachten Religionskritiker Werner Lojewski ausgerechnet mit der Eröffnung von
Filialen einer Fastfood-Kette (1) vom gesellschaftlichen Progress Gelsenkirchens überzeugen zu wollen, welche zudem ganz explizit mit Halal-Schlachtung wirbt (was das für die Tiere bedeutet, kann
jeder selbst in Erfahrung bringen), und so ausschließlich und hochexklusiv auf die Anforderungen eines einzigen, ganz bestimmten (um mit den Worten von Chajm Guski zu sprechen) "speziellen Klubs"
Rücksicht genommen wird.
Hinweise auf z.B. koschere Zubereitung konnte ich jedenfalls auf der Homepage des Unternehmens nicht finden. Und das Ganze pluralistischer und noch kultursensibler "Hindu-freundlich" zu gestalten
verbietet sich geradezu: eine Umbenennung in "Mr. Vegan" dürfte dem kommerziellen Erfolg dieser Firma eher abträglich sein.
Aber vielleicht sind koschere Lebensmittel ja im "Deniz-Market" erhältlich und es wird wenigstens dort, zugunsten der Gefühle tiefreligiöser Hinduisten, auf den Verkauf von Fleischprodukten
verzichtet.
Ist es nicht wunderbar, wie religiöse Vielfalt die Menschen eines Landes zusammenbringt und die Harmonisierung unserer Gesellschaft befördert?
Zum ebenfalls erwähnten häuslichen Pflegedienst lässt sich, abgesehen von der Selbstdarstellung des Unternehmens (5), einer Erwähnung in einem etwas naiven Lokalkompass-Artikel mit dem Titel
"Istanbul in Gelsenkirchen" (3), einem weiteren aufschlussreichen WAZ-Artikel (2) (Zitat: "Auf „Multikulti“ setzt der Bueraner mit türkischem Migrationshintergrund aber nicht. „Das
funktioniert im Alter nicht“ (...)" sowie einem einzigen, nicht besonders schmeichelhaften Eintrag von 2012 auf dem Arbeitgeber-Bewertungsportal Kununu (4), eher wenig in Erfahrung
bringen.
Was ich mit dieser leicht pedantischen Gegenrede bezwecke? Ganz gewiss nicht, zwanghaft das Haar in einer auf breiter Medienfront als schmackhaft angepriesenen Suppe* zu finden.
Vielmehr möchte ich den Leser motivieren, genauer hinzuschauen und selber zu recherchieren: das gilt für die gern zitierten, angeblich so zahlreichen Erfolgsgeschichten (die meiner Erfahrung nach
herausragende, lobenswerte Ausnahmen sind) ebenso wie für schwarzmalende, undifferenzierte Allgemeinschmähungen ganzer Städte und Regionen.
Es darf aber bitte auch nicht vergessen werden, dass Pauschalisierungen und Überspitzungen stilistisch gesehen legitime Mittel sind, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und auf bestehende Problemfelder
(wie z.B. Religion und/oder Migration als potenzielles Spaltmaterial für GEsellschaften) hinzuweisen. Man sollte dies auch weiterhin tun können (siehe Artikel 5 GG), ohne dafür reflexartig in
eine Schublade befördert zu werden, wie das viel zu oft geschieht.
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* = hoffentlich halal, koscher, vegan und vom heiligen Geist beglückt!
Quellen, auf die im Text Bezug genommen wird:
1) Mr. Chicken
2) WAZ-Artikel
3) Lokalkompass-Artikel
4) Arbeitgeber-Bewertungsportal Kununu
5) Humane Häusliche Krankenpflege Gelsenkirchen
6) Artikel 5 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
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konzeptjaeger (Donnerstag, 12 Juni 2014 23:32)
Eine äußerst respektable gelsenkirchener Migrations-Erfolgsgeschichte ist z.B. jene von Betül Durmaz:
http://de.wikipedia.org/wiki/Bet%C3%BCl_Durmaz
Da habe ich mal zur Abwechslung rein gar nichts zu meckern und es bleibt mir nur, den Hut zu ziehen vor dieser wichtigen Arbeit. Schappö!
http://www.derwesten.de/staedte/gelsenkirchen/warum-betuel-durmaz-es-als-tuerkin-in-deutschland-geschafft-hat-id726.html